Kompetenzbasiert – gehirngerecht – eindimensional.

31 Aug. 2025 | Scientific Trainer Blog

Ein Essay über die ideologische Falle des kompetenzbasierten Lernens und die Chancen eines aufgeklärten Umgangs mit generativer KI

Der kompetenzbasierte Mensch und seine Reduktion

Einst war Kompetenzorientierung ein emanzipatorisches Versprechen. Bildung sollte nicht länger in steriler Faktenhuberei erstarren, sondern lebensnah, handlungsfähig und praxisrelevant sein. „Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir“ – so klang es verheißungsvoll. Doch was einst als pädagogische Reform begann, ist inzwischen zum technokratischen Monster mutiert, zum Alptraum eines Lernens, das nur noch in Kategorien des Outputs und messbarer Effizienz gedacht wird.

Herbert Marcuse hätte darin die zeitgemäße Verkörperung seines eindimensionalen Menschen erkannt – ein Subjekt, dessen Handlungsspielraum sich ausschließlich im Horizont seiner Verwertbarkeit bewegt. Kein Platz für Ambivalenz, Unsicherheit oder gar kritisches Hinterfragen. In der schönen neuen Kompetenzwelt zählt allein die messbare Performance.

Instrumentelle Vernunft – die unsichtbare Ideologie der Bildungsraster

Bereits Adorno und Horkheimer diagnostizierten in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ die fatale Tendenz, Vernunft nur noch als Werkzeug zur Beherrschung und Optimierung der Welt zu verstehen. In der Bildung äußert sich diese Ideologie in Kompetenzrastern, Lernstandsmessungen und Zielvereinbarungen. Das Subjekt verschwindet hinter einer Wand aus Kennzahlen, verliert seine Individualität und wird zur verwalteten Einheit.

Kompetenzorientierung, ursprünglich wohlmeinend, erzeugt nun eine pädagogische Zwangsjacke, die Lernprozesse auf standardisierte Outputs reduziert. Und wer standardisiert, reduziert Komplexität – was in einer hyperkomplexen Welt kein Versprechen, sondern eine Drohung ist.

Sloterdijk und die endgültige Verschlumpfung des Menschen

Peter Sloterdijk beschreibt treffend, wohin diese Art der kognitiven Reduktion führt: zur „Verschlumpfung des Menschen“. Er meint damit jene Selbst-Domestizierung, jene freiwillige Selbstverzwergung, die uns die Anstrengung und den Widerstand gegen komplexe Realitäten erspart. Wir verschlumpfen uns freiwillig, weil wir die kognitive Anstrengung scheuen. Kompetenzorientierte Lernsysteme unterstützen diesen Rückzug ins Bequeme, indem sie uns Aufgaben vorgekaut und häppchenweise servieren, angepasst an eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne.

Generative KI: Potenzierte Gefahr oder Chance zur Aufklärung?

Mit dem Auftritt der generativen KI – ChatGPT, Gemini, Claude & Co. – erreicht die Problematik eine neue Dimension. KI ist dabei weder Segen noch Fluch per se, sondern ein ambivalentes Werkzeug, das je nach Nutzung unterschiedliche Auswirkungen hat.

Wird KI rein instrumentell genutzt, um unsere Entscheidungsfähigkeit und Urteilskraft noch weiter zu delegieren, wird sie zum Brandbeschleuniger der Selbstverzwergung. KI liefert dann Antworten auf Fragen, die wir gar nicht mehr selber stellen müssen – und führt zu einer kognitiven Atrophie, einem Verlust an Urteilsfähigkeit und kritischer Distanz zur Welt.

Doch dieselbe KI kann auch als dialektisches Werkzeug fungieren: nicht zur bloßen Reproduktion vorgefertigter Lösungen, sondern zur Provokation eigenen Denkens, zur kritischen Reflexion unserer Annahmen. Statt zu fragen „Was denkt die KI für mich?“, könnten wir fragen „Was zeigt mir die KI, was ich bisher nicht sehen konnte?“. KI könnte dann zum Medium kritischer Selbstbefragung werden.

Gehirngerecht vs. weltgerecht – über die notwendige Schwierigkeit des Lernens

Der aktuelle pädagogische Mainstream propagiert „gehirngerechtes Lernen“ als Wohlfühlzone. Das mag kurzfristig die Motivation steigern, führt aber langfristig zur Infantilisierung der Lernenden. Wer Inhalte nur noch als „Brainsnacks“ konsumiert, verlernt das eigenständige Denken, die Frustrationstoleranz und die Fähigkeit zur kritischen Reflexion.

Das Konzept des „Unhappy Learning“ (Erpenbeck) steht diametral entgegen: Lernen, das absichtlich frustriert, anstrengend und herausfordernd ist. Lernen, das absichtlich an Grenzen führt – denn erst an diesen Grenzen beginnt die eigentliche Entwicklung.

Die Forschung von Bjork und Bjork (1992) unterstreicht dies mit ihrem Konzept der „Desirable Difficulties“. Lernen mit bewussten Erschwernissen – Interleaved Learning, Retrieval Practice, Variabilität der Bedingungen – führt langfristig zu höherer Anpassungsfähigkeit, tieferer Verarbeitung und nachhaltiger Lernerfahrung. Es handelt sich dabei nicht um eine didaktische Marotte, sondern um eine neurobiologische Notwendigkeit.

Die Rolle der Weiterbildenden – Wegbereiter kritischer Intelligenz

Gerade in Zeiten generativer KI tragen Weiterbildende eine besondere Verantwortung: Sie dürfen nicht zu Erfüllungsgehilfen eines Systems werden, das Lernen auf die bequeme Häppchenkost reduziert. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, KI so einzusetzen, dass sie die natürliche Intelligenz der Lernenden reaktiviert und stärkt.

Es gilt, KI kritisch zu nutzen, um eigene Standpunkte in Frage zu stellen, normative Glaubenssätze zu reflektieren und Denkprozesse auf ein höheres Niveau zu heben. Lernende sollen nicht passiv konsumieren, sondern aktiv hinterfragen und gestalten.

Fazit: Lernen jenseits der Kompetenzideologie

Der kompetenzbasierte Lernansatz, so gut er gemeint gewesen sein mag, stößt heute an seine Grenzen. In Verbindung mit einer falsch verstandenen KI-Nutzung droht er zum Katalysator der vollständigen kognitiven Infantilisierung zu werden.

Es braucht einen Paradigmenwechsel: Lernen darf nicht länger auf Effizienz, Bequemlichkeit und sofortige Nutzbarkeit reduziert werden. Stattdessen sollten wir Lernen wieder als Akt der Emanzipation begreifen, als kritische Auseinadersetzung mit der Welt und dem eigenen Denken.

Generative KI, richtig genutzt, könnte dabei ein mächtiges Werkzeug zur Förderung kritischer Vernunft sein – sofern wir den Mut aufbringen, uns bewusst gegen die bequeme Verschlumpfung und für eine neue, unbequeme Aufklärung zu entscheiden.

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