Die Versprechen der Neurowissenschaften
Das Manifest der Hirnforscher von 2004
Vor zwei Jahrzehnten, im Jahr 2004, formulierten führende Neurowissenschaftler wie Christian Elger, Gerhard Roth und Wolf Singer in einem vielbeachteten „Manifest“ den Anspruch, dass ihre Erkenntnisse unser Selbstbild erschüttern werden. Sie prognostizierten, dass sämtliche innerpsychischen Prozesse wie Imagination, Empathie, Entscheidungen und sogar Geist und Bewusstsein durch physikochemische Vorgänge im Gehirn beschreibbar seien. Ein umfassender Geltungsanspruch, der die Grenzen der Neurowissenschaften weit überschritt.
Kritik am Manifest durch das Memorandum reflexive Neurowissenschaft
Bereits zehn Jahre später, 2014, widersprach dem ein 14-köpfiges interdisziplinäres Expertenteam um Felix Tretter in einem „Memorandum reflexive Neurowissenschaft“. Sie deckten gravierende Mängel in der Argumentation des Manifests auf. So wurden etwa notwendige und hinreichende Bedingungen verwechselt. Zwar sind psychische Leistungen nicht ohne Gehirn möglich, ähnlich wie die Atmung. Aber würde man deshalb sagen, dass geistige Leistungen durch die Beschreibung der Atemfunktion hinlänglich erklärt werden können? Hier wurde stillschweigend der spekulative Übergang von der Naturwissenschaft zur Metaphysik vollzogen.
Kritik an Pseudoevidenzen in Training und Weiterbildung
Reduktionismus in der Weiterbildungsbranche
Ebenfalls 2014 habe ich selbst in einem Artikel auf die Gefahren eines unreflektierten Neuromythos in der Weiterbildungsbranche hingewiesen. Die enorme Autorität neurowissenschaftlicher Argumente verleitet dazu, die Komplexität realer Situationen so weit zu reduzieren, bis scheinbar eindeutige Empfehlungen herauskommen, wie man „richtig“ kommuniziert, führt oder motiviert. Statt eigenständiges Denken und Handlungsfähigkeit unter Unsicherheit zu fördern, werden so pseudo-wissenschaftliche Lösungen präsentiert.
Kritik des Pharmakologen Felix Hasler
Der Pharmakologe Felix Hasler gehört zu den prominentesten Kritikern. In seiner Streitschrift „Neuromythologie“ wendet er sich gegen „den grassierenden biologischen Reduktionismus und die überzogene Interpretation neurowissenschaftlicher Daten“, die in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Aussagekraft der Befunde stehen. Wie kurz eine rein neurowissenschaftliche Argumentation greift, zeigt Hasler an einem Beispiel: So lässt sich zwar neurologisch ein Zusammenhang zwischen Lustempfinden und Dopamin- oder Endorphinkonzentration nachweisen. Ein Beweis für eine Ursache-Wirkungs-Beziehung ist das aber noch lange nicht, geschweige denn eine hinreichende Beschreibung, was Lust ist und wann und warum sie ein Individuum erlebt.
Die Bedeutung kritischen Denkens für Future Skills
Metakompetenzen des analytischen und kritischen Denkens
Zehn Jahre nach meinem damaligen Artikel scheinen die großspurigen Versprechungen der Gehirnforschungeu glücklicherweise etwas abgeebbt zu sein. Dennoch sind simplifizierende, reduktionistische Vorstellungen gerade in Training, Coaching und Beratung immer noch weit verbreitet. Vielleicht sogar mehr denn je, je komplexer und dynamischer die Welt wird. Schließlich stehen im Zuge der KI-Revolution massive Umwälzungen bevor. Der Drang nach starken Leitfiguren und Leitideen, die uns sagen, was zu tun ist, könnte weiter zunehmen.
Umso wichtiger ist es, wachsam zu bleiben und neurowissenschaftliche Erkenntnisse mit kritischer Distanz zu betrachten. Sinnvoller als nach eindeutigen Antworten zu suchen, ist es, ihre Ergebnisse multiperspektivisch einzusetzen. Indem man verschiedene, teils widersprüchliche Befunde diskutiert, lernen Teilnehmer unvermeidliche Dilemmata zu erkennen und auszuhalten. So lernen sie, auch ohne eindeutige Evidenz Entscheidungen zu treffen und Strategien zu entwickeln, um unvermeidliche negative Konsequenzen abzufedern.
Genau diese Metakompetenzen des analytischen und kritischen Denkens müssen wir in der Weiterbildung systematisch entwickeln. Die Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen kann dazu einen wertvollen Beitrag leisten – wenn wir sie als Schule des kritischen Denkens nutzen. Statt also nach einfachen Antworten zu suchen, sollten wir Teilnehmer darin schulen, in der Diskussion widersprüchlicher Befunde Dilemmata zu erkennen und auszuhalten. So lernen sie, auch ohne eindeutige Evidenz Entscheidungen zu treffen und Strategien zu entwickeln, um unvermeidliche negative Konsequenzen abzufedern.
Future Skills erfordern kritisches Denken und Umgang mit Komplexität
Ein Beispiel: In einem Führungskräfte-Seminar setzen sich die Teilnehmer mit einer Studie auseinander, die einen Zusammenhang zwischen Bonuszahlungen und Aktivität des dopaminergen Belohnungssystems im Gehirn belegt. Naheliegender Schluss: Unerwartete Incentives wirken besonders motivierend. Eine andere Gruppe beschäftigt sich mit einer Untersuchung zum „altruistischen Bestrafen“, wonach Menschen unfaires Verhalten sanktionieren, auch wenn sie sich damit selbst schaden.
In der Diskussion finden sie heraus: Jede Handlungsoption hat ihren Preis. Durch die Diskussion widersprüchlicher Befunde lernen die Teilnehmer, solche Dilemmata zu akzeptieren. Statt auf die eine „richtige“ Lösung zu hoffen, üben sie, Entscheidungen zu treffen und deren Schattenseiten aufzufangen.
Genau darum geht es in den sogenannten Future Skills, die angesichts der rasanten Veränderungen unserer Lebens- und Arbeitswelt immer wichtiger werden. Neben Kreativität, Kollaboration und digitaler Kompetenz gehören dazu vor allem die Fähigkeit zum kritischen Denken und zum Umgang mit Komplexität und Ambiguität. Wer glaubt, mit vermeintlich wissenschaftlichen Patentrezepten die Herausforderungen der Zukunft meistern zu können, erliegt einem gefährlichen Trugschluss.
Der Mythos der Eindeutigkeit und Berechenbarkeit
Umso wichtiger ist es, dass wir in der Weiterbildung keine falschen Erwartungen wecken. Weder die Neurowissenschaften noch irgendeine andere Disziplin werden uns die Antworten liefern, wie die Welt „wirklich“ funktioniert und was wir tun müssen, um „richtig“ zu handeln. Diesen Mythos der Eindeutigkeit und Berechenbarkeit gilt es zu entlarven – gerade weil er so verführerisch ist. Denn er immunisiert gegen Kritik und entlastet von der Verantwortung, selbst zu denken und zu entscheiden.
Stattdessen sollten wir Wissenschaft als das begreifen, was sie ist: ein unabgeschlossener, prinzipiell fehlbarer Prozess der schrittweisen Annäherung an Wahrheit. Ein Prozess zudem, der nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern von Menschen mit all ihren Eigenheiten und Interessen vorangetrieben wird. Diese Erkenntnis bewahrt uns davor, reflexhaft auf pseudoevidente „Beweise“ hereinzufallen. Und sie ermutigt uns, auch wissenschaftliche Autoritäten kritisch zu hinterfragen.
Keine leichte Übung – weder für Lernende noch für Lehrende. Doch nur so können wir die Metakompetenzen entwickeln, die wir brauchen, um die komplexen Herausforderungen der Zukunft zu meistern. Nicht indem wir uns an vermeintlich wissenschaftlichen Gewissheiten festklammern. Sondern indem wir lernen, Ungewissheit und Mehrdeutigkeit auszuhalten und produktiv damit umzugehen. Die kritische Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlichen Erkenntnissen kann dazu einen wertvollen Beitrag leisten – wenn wir sie als Schule des Denkens nutzen, nicht als Quelle vermeintlich eindeutiger Antworten.
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